Montag, 29. September 2014

Babylonisches Inzestverbot



Die Begriffsverwirrung, die als Orwellsches Neusprech (Sprache, die aus politischen Gründen künstlich modifiziert wurde) noch eine Warnung und als „Definitionsmacht“ in den zu meiner Jugendzeit verbreiteten Schriften der Bundeszentrale für Politische Bildung ein Prinzip politischer Beeinflussung war, ist inzwischen ein (durch den einzelnen Nutzer möglicherweise unreflektiertes) Gemeingut geworden und hat als „neue Barmherzigkeit“ sogar bei unserer Heiligen Mutter Kirche Einzug gehalten.

Konkret wünscht anlässlich des Ethikratsvorschlags zur Aufhebung des Inzestverbots die

„Vorsitzende, Christiane Woopen, Professorin für Ethik und Theorie der Medizin an der Universität Köln, eine gläubige Katholikin“, dass „etwas so Wunderschönes und Wertvolles wie die aufrichtige Liebe zwischen zwei Menschen, die keinen anderen Menschen tiefgreifend schädigt, in unserer Gesellschaft lebbar sein möge“.

Diesem hehren Wunsche beizupflichten wäre ich geneigt, wenn er nicht den kleinen Makel aufwiese, dass „Liebe“ gesagt und „Beischlaf zwischen Geschwistern“ gemeint ist.

In der Begründung des Vorschlags werden mehre sachliche Fehler aufgezeigt, von denen ein weiterer hier einschlägig ist:

Das "Grundrecht der erwachsenen Geschwister auf sexuelle Selbstbestimmung" sei in diesen Fällen höher zu gewichten als das "abstrakte Schutzgut der Familie".

In meiner Erinnerung ist „sexuelle Selbstbestimmung“ das Recht, nicht gegen seinen Willen zu sexuellen Handlungen gezwungen zu werden. Das haben natürlich auch ganz besonders Geschwister untereinander.
Im Neusprech scheint es sich eher ein postuliertes Recht zu handeln, sein Gemächt in alles einzuführen, was irgendwie wie eine Vertiefung aussieht bzw. ihr Gemächt mit allem zu füllen, was eine längliche Ausdehnung aufweist. Klingt sinnfrei, wird aber so vertreten.

Seltsam ist, dass Liebe und Geschlechtsverkehr miteinander gleichgesetzt werden, obwohl die Voraussetzung, dass beides zusammenfällt (nämlich die auf lebenslange Treue angelegte Verbindung von Mann und Frau), oft gar nicht mehr vorliegt – man also in der Lage sein sollte, eine Unterscheidung der Begriffe zu treffen –, während für die Neusprech-Version von „sexueller Selbstbestimmung“ eine „praktische Unterscheidung zwischen den sexuellen Gewohnheiten und den biologischen Folgen“ [gemeint ist die Geburt eines Kindes] eingeführt wird, die durch Verhütung und Abtreibung erreicht werde (für ganz Harte: hier gucken).

Diese Sichtweise macht sich auch der Ethikrat zu eigen:

„Und das genetische Risiko solcher Verbindungen [zwischen Geschwistern] unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem, das von Erbkrankheiten belastete Paare zu tragen haben. Die pränatale Diagnostik kann hier gegebenenfalls die nötige Entscheidungshilfe liefern.“

Auf Deutsch: Geschwister können ruhig miteinander schlafen, denn das „Problem“ (ein mit hoher Wahrscheinlichkeit behindertes Kind) lässt sich ja durch Abtreibung „lösen“.
Ich bin üblicherweise nicht um Worte verlegen, hier aber müsste man davon so viele gebrauchen, um die verqueren Vorstellungen, die den Ethikrat zu seinen Voten befähigen, auch nur zu benennen, dass ich nicht sicher bin, ob meine Tastatur so lange hält. Am Ende liefe wohl manches wieder auf eine Variation des Themas „Begriffsverwirrung“ hinaus.
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass sich die meisten erregten Diskussionen in Nichts auflösten, wenn sich jemand fände, der die Beteiligten mit einem tauglichen Wörterbuch beglücken wollte.

Die Ausnahme bildet möglicherweise eine erheblichere Schwierigkeit, die sich hinter der Floskel "abstraktes Schutzgut der Familie" verbirgt. Der Begriff Familie scheint im Neusprech nicht mit etwas verbunden zu sein, das einen seelischen Widerhall fände. Für den tragischen Einzelfall des sächsischen Paares, der den Hintergrund des Ethikrat-Votums abgab, bietet sich „Nachsicht in konkreten Situationen, die der Gesetzgeber nicht vorhersehen konnte“ (aristotelisch: Epikie) als Ausweg an. Aber wie man den Mitgliedern des Ethikrates das vermitteln soll, wovon eine Erfahrung anscheinend nicht vorhanden ist, muss an dieser Stelle offen bleiben. Vielleicht würde mehr erlebte Liebe (im alten Sinne) in einer Familie, die diesen Namen verdient, manchen vor der Flucht in eine heillose Geschlechtlichkeit bewahrt haben.

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