Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen, und so wundert es nicht, dass Mose, als er mit den Gesetzestafeln vom Sinai herabkam und das Volk um das goldene Kalb tanzen fand, Gott selbst fragte: Wer bist du wirklich, was macht dich im Innersten aus? „Zeige mir doch dein Herrlichkeit“ (Ex 33, 18).
Da ging der Herr an Mose vorüber und rief (Ex 34, 6):
"Der HERR, der HERR, Gott: barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Huld und Treue“.Zeitgenössische Schriftgelehrte weisen darauf hin, dass die Passage von Sprache und Theologie eher in die Prophetenzeit passt und wohl nachträglich in Exodus eingefügt wurde, andere halten sie für kultischen Ursprungs, wieder andere finden, sie passt eigentlich ganz zu Israels erstem Ungehorsam und Gottes Urteil. Klar ist aber jedenfalls, dass dieser Abschnitt einer der wichtigsten theologischen Texte in der Schrift ist, weil es die einzige Stelle ist, an der Gott sich tatsächlich selbst über eine Aufzählung seiner Eigenschaften beschreibt, weshalb sie im Alten Testament oft wiederholt wird (Num 14:18; Neh 9:17; Ps 103:8, 17; 145:8; Jer 32:18-19; Joel 2:13; Jon 4:2) oder ihren Widerhall findet (Dtn 5:9f, 1 Kön 3:6, Klgl 3:32, Dan 9:4, …) (sagt J. Carl Larney in Bibliotheca Sacra 158 (2001) 36-51)
Die akademische Diskussion tut m.E. der Bedeutung der Selbstoffenbarung Gottes keinen Abbruch, anders als das einheitsübersetzte „Huld und Treue“, das in meinen Ohren ziemlich nichtssagend ist, so dass ich fast ein Leben lang ignorieren konnte, dass hier Wichtiges gesagt wird.
Die beiden hebräischen Wörter bedeuten (je nach Wörterbuch, das man zu Rate zieht)
a) Loyalität, Treue, Güte, Huld, Gunst, Frömmigkeit, Gnade, Sanftmut, Erbarmen, faithfull kindness, in der LXX in Genesis Gerechtigkeit, in Jes 40,6 Herrlichkeit (Einheitsübersetzung: Anmut)); in Jer 2,2 wird es mit bräutlicher Liebe parallel gesetzt, in Sach 7,9 mit Mitleid/Barmherzigkeit
b) Festigkeit, Zuverlässigkeit, Beständigkeit, Treue, Wahrheit;
Ich würde vermuten wollen, dasselbe Konzept meint Paulus, wenn er von „Gnade und Wahrheit“ schreibt (obwohl er ein griechisches Wort verwendet, das in der LXX nicht vorkommt), oder Bischof Oster, wenn er festhält: „Jesus ist in Person die Versöhnung von Wahrheit und Liebe, von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit“. Nicht unmöglich, dass er da bei St. Bernard gespinxt hat, der zu Ps 85, 11 (Barmherzigkeit und Wahrheit [EÜ: Huld und Treue] begegnen einander) kommentiert:
Wollte die Barmherzigkeit nicht der Wahrheit begegnen, so wäre sie keine Barmherzigkeit (misericordia), sondern Erbärmlichkeit (miseria – Elend, Jammer, peinliche Ängstlichkeit); wollte die Wahrheit nicht dem Erbarmen begegnen, so wäre sie keine Wahrheit (veritas), sondern Härte (severitas).Mutig auf ganz dünnes Eis schlitternd würde ich für den Hausgebrauch die beiden Wörter mit „Zuwendung und Verlässlichkeit“ wiedergeben - Zuwendung als das Absehen von sich und das In-den-Blick-Nehmen des anderen, Verlässlichkeit als das Feststehen zur eigenen Wahrheit, zu der ein für alle Mal gegebenen Zusage.
Daraus leiten sich die anderen Attribute ab:
- weil Gott sich uns Sündern verlässlich zuwendet, finden wir, wenn wir zu ihm zurückkehren, seine offenen Arme – er ist barmherzig.
- er schenkt uns seine Zuwendung ungeschuldet, ohne dass wir sie verdient hätten – er ist gnädig.
- seine Verlässlichkeit ist unbegrenzt; er straft nicht sofort, denn er will den Tod des Sünders nicht, sondern dass er sich bekehre und lebe; er lässt uns ein Leben lang Zeit zur Umkehr – er ist langmütig.
Wie „Festigkeit zur gegebenen Zusage“ und „Absehen von sich selbst“ zusammengehören, zeigen die Propheten, die den Abfall Israels mit Ehebruch vergleichen, und die Treue Gottes mit einem Mann, der dem ungetreuen Weib hinterherläuft – die Treue Gottes geht bis zur Selbstverleugnung.
Wie aber hängt das mit der abschließenden Selbstoffenbarung Gottes in Tod und Auferstehung Jesu zusammen, der sagt: Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig?
Antwort auf diese und viele weitere Fragen gleich nebenan, wo es heißt:
Ich verkündige euch das Geheimnis Gottes, das seit ewigen Zeiten und Generationen verborgen war, jetzt aber seinen Heiligen offenbart wurde.
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