Montag, 29. September 2014

Lesen müssen



Kamen Worte von dir, so verschlang ich sie;
dein Wort war mir Glück und Herzensfreude;
denn dein Name ist über mir ausgerufen,
Herr, Gott der Heere. (Jer 15, 16)

Frisch Verliebte scheinen gelegentlich unter einem geheimnisvollen Bann zu stehen, der sie weder denken noch schlafen lässt, am Essen hindert und sie zwingt, einander ständig in die Augen zu schauen.

Und so ähnlich ist es auch mit den Evangliumslesern.
Ein Außenstehender möchte vielleicht meinen, allmählich müsste der mittlere Katholik doch gut genug wissen, was so in der Bibel steht, und mag nicht verstehen, was die Leute Sonntag für Sonntag in die Kirche zwingt, und manche auch noch unter der Woche in der Heiligen Schrift lesen lässt.

Es ist halt ein bißchen wie verliebt sein: man möchte dem Herrn immer tiefer in die Augen schauen …

Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit (2 Tim 3, 16).

Wozu gucken Verliebte einander in die Augen?

- Um einander kennenzulernen
Verliebte wollen alles voneinander wissen.
In der Bibel erfahren wir Näheres über Gott, über sein Wesen, sein Verhältnis zu uns Menschen, seine Taten.
Die Heilige Schrift ist nützlich, schreibt Paulus, zur „prÕj didaskal|an“, zur Lehre, zur Information, um den Glauben zu vertiefen.

- Um einander zu verstehen
Verliebte wollen einander immer besser verstehen. Was bewegt den anderen, was möchte er, was erwartet er von mir – und wie findet er das, was ich tue?
In der Bibel lernen wir den Willen Gottes kennen, seinen Plan für uns Menschen, wie wir sein sollten, wozu wir geschaffen sind: Gott und den Nächsten zu lieben.
Wir hören auch von Menschen, die mit diesem Anspruch Schwierigkeiten haben. Vielleicht erkennen wir manche Schwierigkeit bei uns wieder. Diese Rückmeldung kann uns Ansporn sein, dem Willen Gottes mehr zu entsprechen.
Die Heilige Schrift ist nützlich, schreibt Paulus, „prÕj ülegmÒn“, zur Beweisführung oder Rüge, zur Gewissenerforschung, um die Liebe zu mehren.

- Um einander aufzubauen
Verliebte geben sich Kraft und Trost.
Die Evangelien berichten, dass Gott Mensch geworden ist, um den Gebeugten die Frohe Botschaft von der nahen Gottesherrschaft zu bringen. Gottes Geist will in uns wirken, uns helfen, über unseren Schatten zu springen; Gott erlöst uns aus der Sklaverei der Sünde, beendet die Unterdrückung der Menschen durch seinesgleiches, macht Himmel und Erde neu.
Wer mit dem eigenen Versagen hadert, findet in der Bibel die Zusage von Gottes Zuwendung und Verlässigkeit: die gegebene Verheißung wird nicht zurückgenommen, Gottes Barmherzigkeit streckt ihre offenen Arme immer dem entgegen, der sich neu besinnt und zu ihm umkehrt.
Die Heilige Schrift ist nützlich, schreibt Paulus, „prÕj üpanÒrqwsin“, zum Wiederaufrichten, zum Mutmachen, um die Hoffnung zu stärken.

Die Schriftlesung dient also „zur Information, zur Gewissensprüfung, zum Mutmachen, [kurz:] zur Ausbildung in Gerechtigkeit“.
Gerechtigkeit ist nicht die Qualifikation des Richters; gerecht ist, wer seine Pflichten gegen die Mitmenschen erfüllt. Ein antiker Autor definiert gerecht als „sehr fremdenliebend“, denn die Erfüllung der Pflichten gegen Rechtlose und Fremde sei besonders in der Gerechtigkeit einbegriffen, mache den Menschen zum wohlgesitteten.

Das verliebte tête-a-tête mit Gott bleibt nicht bei sich stehen, sondern bringt Frucht im Umgang mit dem Nächsten, in einem gelingenden Leben.

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